Erinnern darf nicht aufhören

01. 05. 2020

Vor 75 Jahren wurde Wilhelm Rahde (16.11.1914 – 1.5.1945) in Perleberg standrechtlich erschossen 

Als am 1.9.1939 der Zweite Weltkrieg begann, glaubte mancher an ein schnelles Ende, einen schnellen Sieg, ein schnelles Besiegen der Nachbarn. Doch die Dimensionen der Kriegsplanung bedeuteten eine noch größere Katastrophe als der Erste Weltkrieg: bis Anfang Mai 1945 eine sechsjährige Kriegsdauer, Millionen Tote und Opfer sowie Zerstörungen nie gekannten Ausmaßes. Am 8. Mai erinnern sich die letzten Überlebenden und Nachkommen an das Ende des Krieges und den Tag der Befreiung vom Faschismus vor nunmehr 75 Jahren.

 

In allen Familien hinterließ der Krieg Trauer und Verlust. Am 8. Mai stehen bei den Gedenkveranstaltungen jährlich diejenigen Militärangehörigen im Mittelpunkt, die für die Beendigung des Zweiten Weltkrieges und der faschistischen Diktatur ihr Leben verloren. Auf dem Ehrenfriedhof für Soldaten der Roten Armee am Grahlplatz konzentriert sich an den Gräbern die Erinnerung an diejenigen, deren Truppen am 2.5.1945 in Perleberg einmarschierten. Bis zum allerletzten Moment, bevor die Russen die Stadt einnahmen, agierten fanatische deutsche Täter. Wer sich dem Nazi-System widersetzte, wurde vernichtet.

 

Die Stadt Perleberg erinnert anlässlich des 75. Kriegsendes auch an den Pazifisten Wilhelm Rahde, der noch am 1.5.1945 als Deserteur in Perleberg erschossen wurde. Seine Geburtsstadt Löhne setzte ihm als Opfer des Naziregimes im Jahre 2016 einen Stolperstein. In Perleberg erinnert auf dem Evangelischen Waldfriedhof seit Sommer 1945 ein Einzelgrab mit Findling an den 30jährigen, der am letzten Tag des Krieges in Perleberg erschossen worden war. Nun gibt es in Perleberg auch eine Kurzbiografie Wilhelm Rahdes nachzulesen. Als Bibelforscher konnte er den Kriegsdienst mit seinem Glauben nicht vereinbaren. Nachdem er deshalb gefangengenommen und unter Androhung seiner Erschießung gefügig gemacht wurde, war er ab 1936 in der Wehrmacht. Seine Glaubensbrüder und -schwestern, die durch ihre Bibeltreue und konsequente Verweigerung gegenüber den Nazis besonders litten, waren furchtbaren Martyrien während des Dritten Reiches ausgesetzt und wurden sogar noch nach dem Kriegsende inhaftiert. Die noch heute weitverbreitete Unkenntnis über diese Schicksale muss beschämen.

 

Als das Ende des Krieges bevorstand, setzte sich Wilhelm Rahde am 23.4.1945 von seiner Truppe in Perleberg ab und versuchte, die nahe Elbe zu erreichen, um sich auf der anderen Seite den Amerikanern zu ergeben. Er wurde von einem deutschen Posten aufgegriffen und als Deserteur am 1.5.1945 in einer Perleberger Kiesgrube standrechtlich erschossen.

Am 6.02.1946 schrieb der Landrat des Kreises Westprignitz, möglicherweise handelt es sich um Hans Wulfert von Zerssen, an die Witwe: „Sehr geehrte Frau Rahde! Die Friedhofsverwaltung Perleberg hat mir Ihr Schreiben vom 23. Januar 1946 vorgelegt, weil ihr bekannt war, daß ich mich um die Bestattung Ihres Gatten bemüht habe. Ich habe mit Ihrem Gatten in Perleberg im Gefängnis des Amtsgerichts gesessen und mit ihm zusammen in den Wochen seiner Haft des Öfteren gesprochen. …Solange diese Haftangelegenheit in den Händen des hier beheimateten Kriegsrichters Gerloff und des Anklagevertreters Dr. Meyer lag, wurden alle anhängigen Verfahren verschleppt. Als aber die Gerichtsbarkeit in die Hände des Kampfkommandanten gelegt wurden, der ein Sonderstandgericht bildete, wurde unsere Lage ziemlich hoffnungslos. … Der Kreisrichter kom. Amtes Külz, im Zivilberuf Gaurichter in Potsdam, und sein Kollege Wurche betrieben die sofortige Verurteilung aller Inhaftierten. Das erste Opfer, auf das sie sich festlegten, war Ihr Gatte, der in den Nachmittagsstunden des 30. April 1945 zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Weitere Todesurteile folgten am gleichen Tage. …Ich habe diesen Platz (der Erschießung) einige Wochen nach unserer Befreiung durch die Rote Armee ausfindig machen lassen und den Auftrag gegeben, Ihren Gatten an würdiger Stelle zu bestatten, einen guten Sarg angekauft und einen Grabstein in Auftrag gegeben mit der Inschrift (siehe Foto).

 

…Leider sind die Nachforschungen nach diesen drei (maßgeblich beteiligten) Personen ergebnislos gewesen, die, wenn sie sich nicht sinnlos betrunken hätten, ohne Gewissensbisse weitere Opfer in den Tod gebracht hätten…“ Auch der Pfarrer, der den Verurteilten Rahde bis zu seiner letzten Stunde betreute, war über die Tragik tief bewegt, er schrieb am 31.5.1945 an die Witwe einen Brief und besuchte sie Anfang der 1950er Jahre. Das Schicksal, nein, die fanatische Ermordung des friedfertigen Mannes wühlt bis in die Gegenwart auf und darf nicht vergessen werden.

 

Die Erinnerung an den Zeugen Jehovas Wilhelm Rahde, der seit 75 Jahren in Perleberger Erde ruht, hat in bewährter Weise mit einer Kurzbiografie Martina Hennies besorgt, die dazu Menschen in seiner Heimatstadt Löhne kontaktierte. Dafür möchte sie sich bei Willy Triller, Mathis Nolte und Detlef Scheiding nochmals bedanken. Dort hat man über zahlreiche Verfolgte während des Dritten Reiches Material zusammengetragen. So ist glücklicherweise auch Näheres sowie Bildmaterial über Wilhelm Rahde erhalten geblieben. Dieses fügt sich mit der jahrzehntelang gepflegten Grabstätte Rahdes in Perleberg zusammen.

 

Auch Wilfried Schmidt aus Wittenberge hat auf Einladung von Martina Hennies an dem Erinnerungsblättchen mitgewirkt. Die Vielfalt der Religionsgemeinschaften (u.a. Zeugen Jehovas / ehem. Bibelforscher), die sich innerhalb der fünf Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddismus) entwickelten, überfordert den Laien, Unterscheidungsmerkmale zu erfassen. Das Vertrauen auf einen Gott führt die Gläubigen durch ihr Leben und bestärkt sie in ihrer Gemeinschaft. Wilfried Schmidt erklärt, wie sich beispielsweise die Gemeindemitglieder der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Perleberg verstehen. Unkenntnisse, Vorurteile und unüberschaubare Unterschiede verunsichern viele Menschen in ihrer Beziehung zu religiösen Menschen. Allerdings beeindruckt zugleich deren Selbstlosigkeit und Zuversicht, denkt man an andere Verfolgte und NS-Opfer wie Dietrich Bonhoeffer, Janusz Korczak, die ihren Glauben bis zur letzten Konsequenz lebten.

 

Bild zur Meldung: Stadt Perleberg | Grab von Wilhelm Rahde auf dem evangelischen Waldfriedhof in Perleberg

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